Ich bin sicher, dass jeder schon einmal eine solche Situation erlebt hat: Man ist irgendwo eingeladen oder befindet sich in einem Restaurant zu einem netten Abendessen. Vielleicht sind Sie ein bisschen zu spät gekommen, und Ihre Freunde haben für Sie oder für alle bestellt. Wenn man bei jemandem zu Hause eingeladen ist, hat man natürlich sowieso keine Kontrolle darüber, was serviert wird. Aus welchem Grund auch immer werden Sie mit etwas bekannt gemacht – vielleicht sogar mit etwas, das Sie noch nie gegessen haben – oder zumindest nicht in dieser Ausführung.
Die Erweiterung Ihres Geschmacks
Sie riechen und finden nichts Ungewöhnliches.
Sie nehmen vorsichtig ein kleines Stück oder einen Bissen auf Ihre Gabel oder Ihren Löffel. Sie heben langsam die Hand zum Mund, wie ein Hubschrauber beim Start. Sie richten das Besteck nach vorne und öffnen Ihre Lippen gerade weit genug, damit das Unbekannte eindringen kann. Sie legen das Besteck auf Ihre Zunge und schließen die Lippen sanft darum. Sie bewegen die Hand mit dem Löffel oder der Gabel nach hinten und lassen den Bissen in Ihrem Mund.
Dann passiert es.
Ihre Sinne sind verwirrt. Das ist neu. Es hat die richtige Temperatur – ist cremig, knackig, frisch, sauer, scharf, süß, salzig, rauchig, geröstet. Es ist alles da. Er ist ausgewogen und doch kraftvoll. Er verwirrt Zunge, Nase und Hirn: So etwas haben sie noch nie probiert. Es ist, als wäre es genau für diesen Moment gemacht. Maßgeschneidert für Sie. Maßgeschneidert, damit Sie ihn lieben und genießen können. Das ist episch. Unglaublich. Sie lieben es.
Mehr.
Sie nehmen eifrig und mutig ein größeres Stück, immer noch verwirrt, was das wohl sein mag. War es nur ein Trick Ihres Gehirns? Kann es sein, dass es SO gut war? Sicherlich nicht! Ihre natürliche Skepsis setzt ein. Wenn etwas zu schön ist, um wahr zu sein, ist es das wahrscheinlich auch. Das zweite Mal, dass dieses neue Etwas in Ihren Mund und Ihr System gelangt. Diesmal umarmt Ihr Mund es. Da ist sie wieder. Die Explosion. Die Güte. Die Aufregung, das überwältigende Verlangen, mehr zu essen.
Nach diesem Bissen schauen Sie auf, blicken in die Runde Ihrer Tischnachbarn, machen wellenförmige Gesten mit den Händen, als ob Sie versuchen, ein neues Wort in der Zeichensprache zu erfinden, und dann öffnen Sie den Mund zum Sprechen:
„WOW“ „WAS ZUM TEUFEL“ „UNGLAUBLICH“ „ERSTAUNLICH“ „DAS ZEUG IST SO LECKER
Die gleiche Erfahrung machte ich, als ich zum ersten Mal Risotto probierte.
Es war im Haus meiner damaligen Freundin, oder besser gesagt im Haus ihrer Eltern. Ihre Familie leitete eine Werbeagentur in meiner Heimatstadt Freiburg und hatte sich ein kleines Vermögen und Einkommen erarbeitet. Sie waren nicht superreich, aber durchaus wohlhabend. Ein großes Haus in einem Vorort der Stadt, jährliche Skiurlaube und schicke Klamotten.
Wo meine Vorstellung von Qualität entstand
Lustigerweise machte ich durch die gleiche Familie eine weitere bahnbrechende persönliche Entdeckung: Die Werbeagentur des Vaters, die das Penthouse und das Stockwerk darunter in einem schicken Bürokomplex in der Freiburger Innenstadt (falls es das überhaupt gibt) belegte, war der erste Ort und Zeitpunkt, an dem ich einer zeitlosen Designikone begegnete: Möbel von USM Haller. Diese (meist Büro-)Möbel aus der Schweiz sind so einfach wie nur möglich, aber gleichzeitig genial.
Stellen Sie sich rechteckige Blöcke vor, die ungefähr die gleichen Maße haben wie eine Schatztruhe. Nur der Deckel der Truhe ist vorne. Ein Rahmen aus glänzend verchromten Stahlrohren bildet ein Netz aus Stahlrahmen. Es sieht ein bisschen aus wie ein Baugerüst. Die Wände dieser Rahmen sind mit Paneelen aus Stahlblech verkleidet, die es in verschiedenen Farben gibt. Weniger ist mehr. Die Paneele werden auf die Rahmen gepresst und an der Innenseite eingeklipst. Keine Schraube, kein Nagel nötig. Aber das Genialste sind die kleinen Stahlkugeln an jedem Ende der Rohre. Diese kleinen Knirpse machen die ganze Sache modular und vielseitig. Jede Kugel hat 6 Löcher, in die die Rahmenrohre geschraubt werden können.
Damit ist das Ding buchstäblich wie ein Spielzeugbaustein für CEOs.
Warum ich Ihnen das erzähle: Um Ihnen eine Vorstellung von meinem Qualitätsstandard zu geben.
Die Möbel, die ich damals noch nicht kannte, sind ziemlich teuer. Für ein einfaches Sideboard zahlt man etwa 3000 bis 4000 EUR, für eine Bibliothek leicht 8-10k EUR.
Ich fragte einen Typen, als ich in der Werbeagentur war: „Wow, die Möbel sehen toll aus, sind die nagelneu? “
Der Typ antwortete: „Nein, die sind 30 Jahre alt.“
Daher ist der Preis absolut gerechtfertigt. Deshalb kosten wirklich gute Dinge (meistens) mehr – und wirklich gute Dinge beeindrucken durch Qualität und Charakter.
Diesen Grundsatz kann ich leicht auf die Welt der Lebensmittel übertragen.
Auf jeden Fall hatte ich nie ein gutes Verhältnis zum Vater meiner Ex-Freundin. Natürlich sieht es kein Vater gerne, wenn seine Teenagerin mit einem „Nur-Erwachsenen“, „Nur-Fahrer“ und „Nur-Partner“ eine langfristige Beziehung eingeht. Oder um des Arguments willen mit irgendeiner männlichen Person. Die Atmosphäre um uns herum war höchstens höflich genug für eine Begrüßung, aber ansonsten kalt und für mich war da eine Menge Angst. Nicht Angst vor dem Leben, dass ich ins Gesicht geschlagen werden könnte: Angst vor Unbeholfenheit und peinlichem Schweigen.
Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Risotto gegessen: Einmal war ich offiziell zum Abendessen eingeladen.
Die Mutter meiner Ex-Freundin kam ursprünglich aus der Karibik, aus Martinique. Sie war eine schöne, elegante, farbige Dame mit einem sehr charmanten französischen Akzent. Dann waren da noch der ältere Bruder und die Älteste, ihre Schwester. Und dann war da noch Werner.
Werner war der Name des Vaters.
Ich sage „war“, weil Werner leider sehr früh und tragisch ein paar Jahre später starb, lange nachdem ich mit meiner Ex-Freundin zusammen war.
Gott segne dich, mein Freund, dass du mich mit Risotto und USM Haller bekannt gemacht hast.
Werner war dabei, das Risotto zuzubereiten. Der Tisch direkt neben der Küche im (natürlich) offenen Erdgeschoss war mit 6 Tellern für die Suppe und Löffeln gedeckt. In der Mitte des Tisches lag eine runde Korkmatte, die man benutzt, um heiße Töpfe oder Pfannen auf den Tisch zu stellen. Sonst nichts, und ein paar Gläser, aber sonst nichts. Ein spartanisch gedeckter Tisch.
Ich wusste, dass es der Risotto-Abend war. Aber für mein Verständnis war Risotto, was ich damals als „Rizi Bizi“ kannte. Ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand die gleiche Interpretation von Rizi Bizi hat, die ich habe: Rizi Bizi ist gekochter Langkornreis, der ganz zum Schluss mit Erbsen und Karotten vermischt wird. Es ist eher ein Reste- oder sogar ein Studentengericht. Für eine Studentin, die von ihren letzten 3 EUR im Monat lebt.
Auf jeden Fall war ich verwirrt und überrascht und dachte: „Warum servieren sie so ein Gericht am Abend des Familienessens und machen einen großen Wirbel darum?“
Oh Mann, wie wenig ich doch wusste.